Die erste Plenartagung in Straßburg nach der Europawahl: Was sind die Hauptthemen?

Die Europaabgeordneten versammeln sich in Straßburg zur ersten Plenarsitzung nach den Wahlen im Juni. ©Daina Le Lardic/ European Union 2024 - Source : EP

Gut einen Monat nach der Europa-Wahl kommt erstmals das neue Europäische Parlament zusammen.

Die 720 Abgeordneten - rund 40 Prozent sind neu - versammeln sich ab Dienstag in Straßburg. Es ist der Beginn einer fünfjährigen Legislaturperiode, die die unruhigste in der Geschichte werden könnte.

Nach den Wahlen im Juni gehören nun mehr als ein Viertel der Abgeordneten rechtsextremen Franktionen an, was eine direkte Herausforderung für die proeuropäischen Parteien der Mitte darstellt. Sie müssen trotz ihrer Regierungsmehrheit befürchten, dass die zunehmende Polarisierung die langfristigen Ambitionen der EU schwächen und eine Lähmung der Gesetzgebung bedeuten könnte.

Der jüngste Zuwachs der radikalen Rechten ist das so genannte Europa der souveränen Nationen (ESN), eine 24-köpfige Gruppe, gegründet von der deutschen AfD. Die Fraktion positioniert sich gegen Einwanderung, LGBTQ, Feminismus, den Green Deal, Impfungen und militärische Hilfe für die Ukraine.

Die Gründung erfolgte nachdem sich die Patrioten für Europa zusammengeschlossen hatten - zu denen unter anderem der französische Rassemblement National, die ungarische Fidesz, die italienische Lega und die österreichische Freiheitliche Partei (FPÖ) gehören. Die Gruppe hat 84 Abgeordnete im Europäischen Parlament, womit sie die drittgrößte Fraktion im Plenarsaal sind.

Die sich verändernde politische Landschaft wird die Grenzen des Cordon sanitaire, dem sogenannten „Sperrgürtel“ austesten, den die etablierten Parteien der extremen Rechten bisher auferlegt haben, indem sie ihr hochrangige Positionen in den Institutionen vorenthalten haben, wie etwa Vizepräsidenten und Ausschussvorsitzende.

Hier ein Überblick über die Tagesordnung der ersten Plenartagung:

Dienstag: Metsolas Wiederwahl ist sicher

Die Abgeordneten beginnen ihre Arbeit mit der Wahl ihrer Präsidentin für die nächsten zweieinhalb Jahre. Die Spitzenkandidatin ist ein bekanntes Gesicht: Roberta Metsola, die maltesische Politikerin, die die Institution seit Anfang 2022 leitet.

Metsola, die der Mitte-Rechts-Partei Europäische Volkspartei (EVP) angehört, ist eine gemäßigte Persönlichkeit, die im gesamten politischen Spektrum sehr beliebt ist und die Ansichten des Parlaments gut vertreten hat. Dank ihrer Erfolgsbilanz gilt ihre Wiederwahl mit absoluter Mehrheit (50 % der Abgeordneten plus einer Stimme) als sicher.

Berichten zufolge ist die Linke daran interessiert, einen Alternativkandidaten aufzustellen, wie sie es schon 2022 getan hat. Diese alternative Kandidatur wird jedoch rein symbolisch sein.

Roberta Metsola is running for re-election as the Parliament's president.European Union, 2024.

Im Anschluss an die Wahl werden die 14 Vizepräsidenten gewählt, die proportional auf die großen Parteien verteilt sind. Hier wird sich zeigen, wie wirksam der Cordon sanitaire ist: Die Patrioten für Europa versuchen, einen der Vizepräsidenten-Posten zu bekommen, was die EVP, die Sozialisten und die Liberalen zu verhindern versuchen.

"Das sind gewählte Posten des Parlaments", sagte ein EVP-Sprecher am Freitag. "Wir wollen nicht, dass diese Abgeordneten die Institution repräsentieren, das ist der Hauptgrund".

Mittwoch: Rückendeckung für die Ukraine, Zurechtweisung von Orbán

Das Auftauchen neuer rechtsextremer Fraktionen hat die Befürchtung geweckt, dass die eiserne Unterstützung des EU-Parlaments für die Ukraine gegen den russischen Angriff in den nächsten fünf Jahren schrittweise geschwächt werden könnte.

Um diese Befürchtungen zu zerstreuen, werden die Abgeordneten in ihrem ersten Beschluss in der 10. Legislaturperiode ihre Unterstützung für das kriegsgebeutelte Land bekräftigen und die Mitgliedstaaten auffordern, die militärische Hilfe zu verstärken und Fortschritte im Beitrittsprozess zu erzielen.

Der gemeinsame Aufruf kann als eine Rüge für Viktor Orbáns äußerst umstrittene Besuche in Russland und China im Rahmen seiner selbsternannten "Friedensmission" verstanden werden, die von den EU-Staats- und Regierungschefs scharf verurteilt wurden. Obwohl Budapest darauf besteht, dass die Reisen im Rahmen der bilateralen Beziehungen stattfanden, hat die Tatsache, dass sie mit dem Beginn der sechsmonatigen ungarischen EU-Ratspräsidentschaft zusammenfielen, den Vorwurf des Machtmissbrauchs aufkommen lassen.

Ursprünglich sollte Charles Michel, der Präsident des Europäischen Rates, an der Plenartagung teilnehmen und mit den Abgeordneten über Orbáns Reise diskutieren. Dieser Punkt wurde jedoch von der Tagesordnung gestrichen und Michel wird nicht nach Straßburg kommen.

Am Mittwoch wird auch darüber abgestimmt, wie viele Abgeordnete in den ständigen Ausschüssen, Unterausschüssen und Delegationen des Parlaments sitzen. Über die Vorsitzenden dieser Gremien wird zu einem späteren Zeitpunkt entschieden - ein weiterer Test für den Cordon sanitaire.

Donnerstag: Von der Leyen muss sich der Entscheidung stellen

Dies wird wohl der spannenste Moment der Woche: Die Abgeordneten neuen werden darüber abstimmen, ob Ursula von der Leyen für eine zweite Amtszeit zur Präsidentin der Europäischen Kommission gewählt werden soll.

Die EU-Staats- und Regierungschefs haben die Amtsinhaberin im Rahmen eines Dreierpakets für die Spitzenämter vorgeschlagen. Doch das Parlament, die einzige direkt gewählte Institution der Union, wird seine Muskeln spielen lassen und es könnte knapp für von der Leyen werden.

Die Sozialdemokraten und die Liberalen haben detaillierte Wunschlisten vorgelegt, die die Kommissionschefin in ihr Arbeitsprogramm aufnehmen soll, um ihre Unterstützung zu erhalten. Von der Leyens eigene Familie, die EVP, steht nicht voll hinter ihrer Wiederwahl, was bedeutet, dass sie so viele Stimmen wie möglich von anderen etablierten Parteien benötigt.

Die Grünen, die streng genommen nicht Teil des zentristischen Programms der Präsidentin sind, werden sich als die Königsmacher des Tages herausstellen. Ihre 53 Europaabgeordneten kritisieren zwar von der Leyens Amtsführung (z. B. in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit und Migration), aber sie erkennen auch ihre politischen Leistungen im Rahmen des Green Deal an.

Ursula von der Leyen faces a make-or-break vote in the European Parliament.European Union, 2024.

Das Ergebnis dieser Verhandlungen wird sich in der großen Rede herauskristallisieren, die von der Leyen am Donnerstag vormittag< halten wird und in der sie die wichtigsten Prioritäten und Initiativen für ihre (potenzielle) zweite Amtszeit darlegen wird.

Am Tag vor der entscheidenden Abstimmung wird der Europäische Gerichtshof ein mit Spannung erwartetes Urteil über den Zugang zu Informationen im Zusammenhang mit von der Leyens Umgang mit Impfstoffverträgen fällen, insbesondere zu ihrem Austausch mit dem CEO von Pfizer.

Erhält die Kandidatin nicht die erforderlichen 361 Stimmen, haben die EU-Staats- und Regierungschefs einen Monat Zeit, einen neuen Namen vorzuschlagen. Doch dies könnte dazu führen, dass die gesamten Verhandlungen über die Spitzenposten, zu denen auch António Costa und Kaja Kallas gehören, neu aufgerollt werden müssen.

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