EM 2024: Das Heimspiel der Türkei in Berlin – zwischen Gastfreundschaft und Wolfsgruß

Trotz der Niederlage: ein Autokorso findet in Berlin dennoch statt.

19.07 Uhr, Hermannplatz. An der äußersten Südostecke des innerstädtischen Ortsteils Kreuzbergs springt die Ampel auf Grün. Ein hochmotorisierter SUV biegt von der Hasenheide in Richtung Sonnenallee ab. Auf dem Dach und an den Riemen der Seitenfenster klemmen rote Fahnen.

Türkei-Fans fiebern seit den frühen Morgenstunden auf das EM-Viertelfinale zwischen der Türkei und den Niederlanden hin. Um 21 Uhr wird Schiedsrichter Clement Turpin das "Heimspiel" für die Türken im Berliner Olympiastadion anpfeifen.

Watson war in Berlin unterwegs, um die Partie mit Fans der Türkei zu schauen.

Am "Tor zu Neukölln" zieht es Menschen in alle Himmelsrichtungen, mich nach Süden. Auf halber Strecke, zwischen dem Rathaus und der S-Bahnstation Neukölln, liegt ein Bekleidungsgeschäft für Männer. Unmittelbar davor stehen Schaufensterpuppen, gekleidet in zerrissenen Röhrenjeans. Unübersehbar: ein rotes Reklamebanner mit der Aufschrift "Sale" über dem Eingangsbereich.

Ansturm auf Türkei-Trikots: Berliner Modegeschäft ist ausverkauft

Zehn Euro für ein T-Shirt, 30 Euro für eine Hose. Es handelt sich um "Fast Fashion", billig fabriziert. Aber die Kund:innen, die das Geschäft in den vergangenen Tagen vermehrt aufgesucht haben, wollen keine fair produzierten Klamotten, vielmehr wollen sie ein Türkei-Trikot. Doch das ist ausverkauft, schon zum dritten Mal binnen der letzten zwei Wochen.

Wie viele er verkauft hat, frage ich einen Mitarbeiter. "Wallah", sagt er und muss prusten. Schweiß läuft von seiner Stirn, die Brille ist von seinem Nasenrücken hinuntergerutscht. Mit seinem Zeigefinger rückt er sie wieder zurecht. "Bestimmt um die 700 Stück seit Beginn der Fußball-EM", erwidert er.

Aber ich könne ein Trikot von Albanien, England oder Kroatien kaufen, nur fünf Euro. Ich winke ab, aber merke: Der Mann kann verkaufen.

EM-Viertelfinale: "Abi, wer spielt heute?"

Auch Metin kann das. Schräg gegenüber, in einem Grillhaus, steht er hinter dem Tresen. Er verkauft Spezialitäten aus der türkischen Küche: scharf gewürztes Hackfleisch vom Spieß, eingerollt in Fladenbrot, serviert mit Tomaten, Petersilie und roten Zwiebeln. Oder auch Halka Tatlisi, türkische Churros.

Metins Fußballherz schlägt für Deutschland.

Noch eine halbe Stunde, dann hat Metin Feierabend. Mit besonderer Sorgfalt wischt er über die Holztische vor dem Lokal. Er setzt heute auf einen Sieg der Türkei, 1:0 wird das Spiel ausgehen. Als er seinen Satz zu Ende bringen will, fallen ihm zwei halbstarke Jugendliche ins Wort: "Abi, wer spielt heute?", sagt der eine zu Metin.

Metin antwortet auf Türkisch, der Junge auf Deutsch: "Ja, Türkei schon klar, aber gegen wen?", will er wissen. Ich mische mich ein: "Gegen die Niederlande". Man könne meinen, ganz Berlin würde wissen, gegen welches Team die türkische Nationalmannschaft heute ums Weiterkommen kämpfen muss. Immerhin wohnen in der Stadt etwa 200.000 Menschen mit Wurzeln in der Türkei.

Doch die Euphorie hält sich in Grenzen, bei den zwei Jungs und bei Metin. Denn eigentlich schlägt sein Herz für die deutsche Nationalmannschaft, erklärt er mir. Mit seinen Worten löst er Herzschmerz in mir aus. Und vermutlich auch bei Millionen anderen, die das bittere Ausscheiden der DFB-Elf gegen Spanien verfolgt haben.

Hier die Nachricht – hier der Sidekick bzw. das Abseitige

Der Wolfsgruß – Auslöser einer diplomatischen Krise

20.40 Uhr, Karl-Marx-Straße. Der Verkehr stockt, eine Baustelle sorgt für Stau. Autos rollen über den nassen Asphalt. Ein schwarzer Geländewagen bremst vor den vorausfahrenden Autos scharf ab und hupt, aber nicht aus Frust. Sondern: Die Insassin startet ein Hupkonzert.

Die ganze Straße setzt mit ein, aus dem Grillhaus von Metin ruft es raus: "Tür-ki-ye". Zwei Kinder sind wie angesteckt, machen kleine Sprünge und singen mit. Sie tragen den Stolz einer ganzen Nation auf ihren Wangen: den sichelförmigen Halbmond und den fünfzackigen Stern.

Doch bei dieser harmlosen Symbolik bleibt es nicht. Ein Mädchen, in einem vorbeifahrenden Auto, hält ihre Hand aus dem Beifahrerfenster und zeigt den Wolfsgruß. Ihr Mittel- und Ringfinger sind auf dem Daumen gepresst, der Zeige- und kleine Finger gen Himmel gestreckt. Die Geste polarisiert und hat längst eine diplomatische Krise ausgelöst.

Meldung

Zum Hintergrund: Im EM-Achtelfinale gegen Österreich zeigte der türkische Nationalspieler Merih Demiral den Wolfsgruß, ein Erkennungssymbol der rechtsextremistischen Ülkücü-Bewegung.

Daraufhin sperrte die Uefa den Torschützen für zwei Spiele. In der Türkei hatte die Entscheidung der Uefa teilweise Empörung ausgelöst. Als "Skandal" bezeichnete der türkische Sender TRT die Entscheidung, der Präsident des Fußballverbands, Mehmet Büyükekşi, nannte sie "inakzeptabel, illegal und politisch".

Auch Esra findet die Entscheidung "unfair". Sie wartet an einem Späti auf ihre Freunde, ihr Körper ist umhüllt von einer riesigen Türkei-Fahne, ihre Haare bedeckt von einem Kopftuch. Für die 14-Jährige sei der Wolfsgruß ein "ganz normaler Gruß", dahinter stecke "keine versteckte Botschaft", wie Demiral selbst nach seinem Torjubel erklärte.

Hassan hofft auf ein zweites Sommermärchen der Türkei

Zehn Minuten vor Anpfiff, ich treffe Hassan vor einem Späti. Er hofft auf ein zweites Sommermärchen. Nur nicht das von 2006, sondern von 2008. Damals, vor 16 Jahren, zog die türkische Nationalelf erstmals in ein EM-Halbfinale ein. Im Elfmeterschießen setzten sich die Türken gegen Kroatien durch.

Ausgelassener Jubel der Türken nach dem gewonnenen Elfmeterschießen 2008.

An diesem Tag hat der 23-jährige Hassan den Hermannplatz "auseinandergenommen", wie er scherzhaft sagt. Wenn heute die Türkei gewinnt, wird wahrscheinlich der Ku'damm brennen, glaubt er.

Zu Gast bei Freunden – in einem Späti in Neukölln

Am Späti 21 wird es kuschlig, die gesamte Nachbarschaft versammelt sich vor dem 60-Zoll-Fernseher. Als der Schiedsrichter die Partie anpfeift, schwenkt eine Frau eine Fahne und versperrt ihren Mitmenschen die Sicht. Hipster laufen durch den engen Korridor aus Stühlen und Bierbänken. Wer stehen bleibt, wird angeschnauzt.

Lange passiert nichts. Auf dem Rasen des Olympiastadions und am "Späti 21". Erst in der 34. Minute, als Samet Akaydin den Führungstreffer zum 1:0 erzielt, fällt tosender Applaus, Kinder kreischen, Frauen schreien und Männer grölen. Ein graubärtiger Mann zündet einen Böller. Es knallt.

Der graubärtige Mann stimmt Lieder an.

Hassan springt freudestrahlend auf, er umarmt einen Kollegen, der kurzerhand in den Späti verschwindet und mit einem Kasten Bier zurückkehrt: "Für jedes Tor der Türkei ein Bier auf mich", ruft er. Hassans Kollege öffnet an die 30 Kaltgetränke, serviert Tortilla-Chips in Plastikschalen und sorgt sich um das Wohl seiner Familie und aller Fremder. Dabei fühlt es sich so an, als wäre man zu Gast bei Freund:innen.

Die Türkei verliert, Hassan geht

Der Ton untereinander ist rau, das Miteinander mehr als herzlich. Es wird gesungen und sich geneckt. Der graubärtige Mann wirft erneut einen Böller, diesmal in Richtung der Kinder, die einfach nicht still sitzen können. Er täuscht aber nur an.

22.28 Uhr, Späti 21. Auf dem Fernseher flimmert ein schwarzes Bild, technische Probleme. Genau in dem Moment, in dem Stefan de Vrij den Ball ins Tor der Türken wuchtet und den Ausgleich erzielt. Dennoch zeigt die Frau mit der Fahne Ausdauer, sie schwenkt weiter. Auch als in der 83. Minute das 2:1 für die Niederlande fällt und Mert Müldür, der Eigentorschütze, zum Pechvogel wird.

Hier die Nachricht – hier der Sidekick bzw. das Abseitige

Nach 90 Minuten und sechs Minuten Nachspielzeit ist Schluss. Der graubärtige Mann nimmt eine Türkei-Fahne, die er auf die Motorhaube seines AMGs gespannt hatte, ab. Die Frau mit der Fahne geht.

Ich schaue in traurige Kinderaugen und auf einen leeren Platz neben mir. Hassan ist weg. Er war vor 15 Minuten gegangen, stillschweigend. Vielleicht ahnte er bereits, dass er die 100 Euro, die er heute auf die Türkei gesetzt hatte, verlieren wird.

Vielleicht hat er aber auch einfach den Glauben verloren, an den Fußballgott.