EM 2024: Hymneneklat bei Türkei-Aus – sieben Dinge, die du im TV nicht gesehen hast

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan besuchte das Türkei-Spiel in Berlin.

Seit Mitte Juni, zu Beginn der Europameisterschaft, säumen zwei Fahnen den Eingang des Istanbul-Supermarkts in meiner Straße. Eine deutsche und eine türkische. Am Samstagmorgen war es nur noch eine, Deutschland ist ausgeschieden. Ein Glück, dass es neben dem offiziellen Austragungsland dieses Turniers noch ein zweites, inoffizielles gibt.

"Das Wort Hexenkessel wird nicht ausreichen", sagte Nationalspieler Salih Özcan vor dem Viertelfinale gegen die Niederlande im Berliner Olympiastadion. Etwa 200.000 Menschen mit türkischen Wurzeln leben in Berlin, fast drei Millionen in ganz Deutschland. Es hätte für all jene, in deren Brust zwei Herzen schlagen, ein besonderes, ein einmaliges Erlebnis werden können. Stattdessen wurde es das politisch am meisten aufgeladene Spiel dieser EM.

Wir waren vor Ort im Stadion. Hier kommen sieben Dinge, die du im TV nicht gesehen hast.

Hamit Altıntop wird ausgepfiffen

Es ist bei den EM-Spielen in diesem Jahr üblich, dass sich ausgewählte Repräsentanten der Länder vor dem Spiel in einer kleinen Videoansprache an die Teams wenden. Für die Niederlande sprach Mittelfeld-Legende Clarence Seedorf eine kleine Passage, für die Türkei meldete sich Verbandsmitglied Hamit Altıntop. Dieser wurde allerdings (wie Seedorf auch) von den türkischen Fans mit einem gellenden Pfeifkonzert quittiert.

Hamit Altıntop ist seit 2019 Vorstandsmitglied im türkischen Fußballverband.

Der Hintergrund der Schmähung ist unklar, womöglich lässt er sich mit der Rolle des 41-Jährigen begründen. Altıntop ist seit 2019 Vorstandsmitglied im türkischen Fußballverband, einer Organisation, die in der Türkei alles andere als wohlgelitten ist.

Ohnehin hatten die türkischen Fans, die sicherlich drei Viertel des Stadions für sich beanspruchten, eine diebische Freude daran, alles und jeden permanent auszupfeifen. Keine missliebige Schiedsrichter-Entscheidung blieb unkommentiert, kein niederländischer Pass unvertont.

Mein Kollege Lukas Grybowski, der ebenfalls im Stadion war, schreibt: "Schon eine Minute nach dem Anpfiff hat sich die Smartwatch mit dem Lautstärkehinweis gemeldet, dass 90 Dezibel auf Dauer zu viel sind."

Motivationsversuche wirken kontraprodukitv

Als hätte es im Vorfeld der Partie noch einen Motivationskatalysator gebraucht, griff die Uefa tief in die Trickkiste US-amerikanischer Sportveranstaltungsfolklore und zauberte einen DJ hervor: "It's DJ Time".

Unter den Klängen von Skrillex und Martin Garrix verstummte das kurz zuvor noch ausgelassen feiernde Publikum – fand ihre Begeisterung aber wenig später wieder. Als der DJ sein Mischpult zusammengepackt hatte.

Massiver Polizeieinsatz

Als "Nonplusultra-Hochrisikospiel" bezeichnete Benjamin Jendro, Sprecher der Gewerkschaft der Polizei Berlin, das Viertelfinale im watson-Interview. Und das machte sich bemerkbar.

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Schon an den Knotenpunkten der Anreise standen Polizeibeamte mit Maschinenpistolen im Anschlag, auf dem Weg zum Stadion flankierten dutzende Einsatzwagen den Straßenrand. Selbst im Berliner Stadtderby gibt es ein geringes Aufgebot. Rund 3000 Beamt:innen sollen insgesamt im Einsatz gewesen sein.

Erdoğan frenetisch empfangen

Es war der Moment, auf den alle mit Argusaugen geschaut haben. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hatte kurzfristig seinen privaten Besuch des Spiels angekündigt.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan wurde herzlich empfangen.

Als er sich in präsidialer Manier auf dem Stadionvortritt zeigte und ins Publikum winkte, wurde er frenetisch empfangen. Etliche Fans winkten zurück, huldigten dem Staatsoberhaupt und drückten ihre Zuneigung aus. Hinter dem Präsidentenpaar saß der frühere deutsche Nationalspieler Mesut Özil.

Döner ist beliebtester Essensstand

Traditionell ist bei den Spielen im Berliner Westend auf dem Stadiongelände ein üppiges Essensangebot aufgestellt. Diverse Stände bieten eine Vielzahl kulinarischer Spezialitäten an – von Italienisch über Griechisch und Spanisch bis hin zu: Türkisch.

Nun sollte man meinen, dass vor allem die in Berlin lebende türkische Community gewisse Ansprüche an ihre landestypischen Speisen hat. Dass also ein Stand, der auf dem Olympiastadion Döner verkauft, womöglich nicht dem Standard entspricht, den es in einem Vier-Kilometer-Radius um die Arena herum an jeder Straßenecke gibt. Und doch:Die Schlange vor dem Dönerladen war die längste.

Sprechchöre für Merih Demiral

Bei der Platzbegehung der Mannschaften stand für einen kurzen Zeitpunkt der Mann im Mittelpunkt, der für den größten Eklat bei diesem Turnier gesorgt hat. Stunden vor Anpfiff betrat Merih Demiral den Rasen und wurde mit lauten Sprechchören von der türkischen Kurve begrüßt.

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Er selbst, der nach seinem Wolfsgruß-Jubel von der Uefa für zwei Spiele gesperrt wurde, bedankte sich für den Empfang – und machte mit weit ausgestreckten Armen zugleich eine entschuldigende Geste. Mutmaßlich weniger für politische Äußerungen als dafür, seine Mannschaft in dem wichtigen Spiel im Stich lassen zu müssen.

Wolfsgruß-Geste während Nationalhymne

Die Ultragruppierung "Turkish Ultras" hatte dazu aufgerufen, während der türkischen Nationalhymne geschlossen die Wolfsgruß-Geste zu zeigen. Und auch wenn die Mehrheit der Fans dem nicht nachgegangen war, zeigten doch etliche das Erkennungssymbol der rechtsextremistischen "Ülkücü"-Bewegung.Nicht nur während der Hymne, auch in Richtung Erdoğans oder unmittelbar vor zwei Polizist:innen.

Auf die Frage, wie die Polizei gedenkt, damit umzugehen, sagt ein Einsatzbeamter auf Nachfrage, das sei nicht sein Gebiet, er sei "für etwas anderes" zuständig. Ein Ordner antwortet: "Weggucken" und fragt, ob überhaupt jemand die Geste gezeigt habe. Im Allgemeinen könne er aber auch nichts machen, "es sind zu viele".